Warum ich keine Mitgliederversammlung mehr verpassen werde– Bericht meiner ersten BMV bei Mehr Demokratie

Ich stehe bei 3°C auf dem Bahngleis am S Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin – es ist 7 Uhr morgens, mir ist kalt und ich hoffe, dass mein Zug pünktlich kommt. Ich fahre heute das erste Mal zur Bundesmitgliederversammlung (BMV) von Mehr Demokratie nach Kassel.

Ich bin hundemüde: Am 16.11. findet diese Mitgliederversammlung in Kassel statt, einen Tag nach unserem Tag für die Demokratie – und der Areal Kunstaktion für die ich sieben Stunden lang nachts mit anderen ein riesiges Kunstwerk erschaffen habe. Gerade nach dieser Aktion freue ich mich, heute dutzende Menschen zu treffen die genauso für die direkte Demokratie brennen, wie ich.

Ich bin 24 Jahre alt und habe noch nie bei einer BMV teilgenommen - und das, obwohl ich seit zwei Jahren Mitglied bei Mehr Demokratie bin. Meine Vorurteile bisher: Bürokratie, Langatmigkeit und schlechtes Essen. Der nötige Schubs, der mich dieses Jahr in Richtung Kassel stößt, sind die Anträge zur Geschlechterparität beim Wahlrecht und Mehr Demokratie’s Positionierung hierzu. Als junge Frau die sich politisch engagiert will ich gerade hier mitreden. Ich steige in den Zug und bin gespannt, was mich in Kassel erwartet.

 

Der Bürgerrat – ein Wegweiser im Kampf für mehr Demokratie

Der Tag für die Demokratie und die damit verbundene Übergabe des Bürgergutachtens überstrahlt deutlich diese Mitgliederversammlung.
„Der Bürgerrat Demokratie ist ein Wegweiser im Kampf für mehr Demokratie! Er fördert Vertrauen zwischen verschiedenen Vertreter/innen der Demokratie. Bürgerbeteiligung, die direktdemokratische Instrumente und die repräsentative Demokratie müssen ineinandergreifen!“
sagt Prof.Dr. Hans-Liudgar Dienel Geschäftsführer des nexus Instituts, zu Beginn der Veranstaltung in seinem Vortrag über den Bürgerrat. Dienel plädiert für eine fruchtbare Verbindung von direkte Demokratie und Beteiligungsformaten. Allein das Vorhandensein direktdemokratischer Verfahren mache Beteiligungsformate verbindlicher: Die Möglichkeit eines Volksentscheides hinge wie ein Damoklesschwert über dem Beteiligungsverfahren. Andersherum könnten vorgeschaltete Bürgerräte vor Volksabstimmungen diese noch demokratischer machen.

Nicht verwunderlich ist die große Frage, die für die Mitglieder danach im Mittelpunkt steht: Wie sichert man die Umsetzung der Ergebnisse? Ralf-Uwe Beck beantwortet diese in seinem Bericht des Bundesvorstandes ausführlich: Es wurde ein Fahrplan erarbeitet, wie die Umsetzung der Ergebnisse des Bürgerrats begleitet werden soll. Unter Anderem haben die zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker zugesichert, sich ein Jahr nach der Übergabe wieder in einer öffentlichen Diskussion zusammenzufinden und Rede und Antwort zu stehen. Der Fahrplan überzeugt.

Auf dem Podium der Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker am Tag für die Demokratie wurde übrigens auch zugesichert, dass die Expertenkommission zur Weiterentwicklung der Demokratie noch diese Legislaturperiode kommen soll. Es bleibt spannend.

Wahlalterabsenkung – ein neues Bündnis?

Nach der Europawahl im Mai haben rund 25 Jugendliche Einspruch gegen die Gültigkeit der EU-Wahl beim Bundestag eingereicht. In Folge der Zurückweisung dieser Einsprüche eröffnet sich nun die Möglichkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Die Arbeit an dieser Beschwerde ist bereits im Gange; sie soll bis Mitte Dezember eingereicht werden. Die Wahlalterabsenkung, die bisher von den Unionsfraktionen blockiert wird, lässt sich über den Klageweg erreichen. Gleichzeitig hat Mehr Demokratie alle Organisationen in Deutschland angesprochen, die sich für ein „Wahlrecht unter 18“ einsetzen.

Volkseinwand – Wird in Sachsen und Thüringen Verfassungsgeschichte geschrieben?

Das fakultative Referendum gehört zu den Kernforderungen von Mehr Demokratie. Der Bericht der Entwicklungen nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sorgt deshalb für Freudestrahlen: Sowohl Michael Kretschmer, als auch Bodo Ramelow haben bekräftigt, das Instrument des Volkseinwandes in ihren Ländern einführen zu wollen. Wir begleiten diese beiden Prozesse.

Debatten, Digitales, Deepening Democracy – die Anträge

Das Herz der BMV sind die Anträge, das wird mir schnell klar. Wie erwartet polarisiert das Thema Geschlechter-Parität im Wahlrecht. Es wird deutlich, dass sich hier wie so oft verschiedene Grundrechte miteinander in Einklang gebracht werden müssen: Der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung, die Freiheit und Gleichheit der Wahl und die Programm- und Organisationsfreiheit der Parteien. Die Diskussion wird umfangreich unter juristischen, gesellschaftlichen und normativen Perspektiven geführt. Am Ende werden alle Anträge zu diesem Thema zurückgezogen. Die Debatte bleibt mir noch lange im Kopf. Sie gibt mir neue Impulse für das Thema und eröffnet mir neue Blickwinkel.

Das erste Positionspapier des Arbeitskreises Digitalisierung zum Thema kommerzielle Überwachung wird vorgestellt. Die kommerzielle Überwachung widerspricht und schadet der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Mitgliederversammlung spricht sich für einen ganzen Strauß an Gegenmaßnahmen aus, u.a. Transparenz, Vollständigkeit und Verständlichkeit bei Datenschutzerklärungen, das Prinzip der Datensparsamkeit und Bildungsmaßnahmen im Bereich Medienkompetenz.

2020 wird der Arbeitskreis ein kleines, nicht-öffentliches Symposium zu dem Thema kommerzielle Überwachung  veranstalten und verschiedene Experten, Vertreter von NGOs und Datenschutzbehörden einladen. Dabei werden die beschlossenen Vorschläge auf ihre Anschlussfähigkeit überprüft.

Mit dem Projekt „Deepening Democracy“ soll Mehr Demokratie einen neuen Ansatzpunkt zur Frage, wie die Demokratie in Deutschland weiterentwickelt werden kann, erforschen. Um unbewusste psychische Blockaden zu identifizieren und Möglichkeiten zu ihrer Entkräftung zu finden, soll die junge, gruppendynamische Psychotherapiemethode der Systemaufstellung auf den demokratischen Kontext übertragen werden. Ziel ist dabei, die wesentlichen Faktoren für die Verhärtungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sichtbar zu machen und einen Perspektivenwechsel anzuregen, um dadurch deliberative Prozesse zu stärken. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation stellt dabei neben der inhaltlichen Untersuchung das zweite zentrale Ziel des Projekts dar.

Warum ich keine Mitgliederversammlung mehr verpassen werde

Ein langer Tag voller intensiver Debatten geht zu Ende. Es gibt wenig Formate in meinem Alltag in denen ich die Möglichkeit habe über demokratische Themen und Sachverhalte so umfangreich zu diskutieren. Und dabei werde ich so gut wie nie mit so unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert.

Die Bundesmitgliederversammlung ist vor allem ein Ort des Austausches und der Findung der eignen Position, sowohl unseres Vereins als auch persönlich. Das Format des BarCamps, passt hervorragend zu diesem Gremium. Es ist gut, dass dieses zukünftig häufiger angewendet werden soll.

Ich steige abends um sieben Uhr wieder in den Zug zurück nach Berlin. Langatmigkeit und Bürokratie habe ich nicht erlebt. Dafür habe ich herzliche Menschen getroffen, wurde bereichert und begeistert. Das Essen war übrigens auch gut. Ich nehme wir vor, zukünftig häufiger zu Bundesmitgliederversammlungen zu fahren.

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