Stefan Vospernik: „Modelle der direkten Demokratie“

Stefan Vospernik: Modelle der direkten Demokratie. Volksabstimmungen im Spannungsfeld von Mehrheits- und Konsensdemokratie – Ein Vergleich von 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos, 2014, 742 Seiten; ISBN 978-3-8487-1919-8 (Print), ISBN 978-3-8452-6046-4 (ePDF), Preis: 149,00 EUR.

183 Volksabstimmungen in 15 europäischen Staaten unter die Lupe genommen. „Modelle der direkten Demokratie“ von Stefan Vospernik 

(Rezension von Frank Rehmet - Bereichsleiter Wissenschaft von Mehr Demokratie)

1. Einleitung

Stefan Vospernik analysiert in seiner Dissertation „Modelle der direkten Demokratie“ in 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Hierzu hat er neben den jeweiligen politischen Systemen insgesamt 183 Volksabstimmungen aus den Jahren 1990 bis 2012 untersucht.

2. Inhalt und Fragestellungen

Vospernik liefert zum einen 15 detaillierte Länderberichte, welche mit 495 der 742 Seiten den Löwenanteil des Buches ausmachen. Zum anderen untersucht er das Verhältnis von Volksentscheiden und parlamentarischem System, besonders die Rolle von Regierungsparteien und Opposition bei Volksabstimmungen. Dabei umfasst seine Analyse sowohl verbindliche direktdemokratische Verfahren als auch unverbindliche Varianten von Volksentscheiden wie etwa konsultative Volksbefragungen. Grundlegend für Vosperniks Betrachtungen ist die Unterscheidung, ob die Volksabstimmung „gouvernemental“ (Stärkung der Regierung) oder „oppositionell“ (Schwächung der Regierung) wirkt.

Dazu hat er 34 Variablen aus Regelungen und Praxis in den jeweiligen Staaten ausgewertet. So vergibt er Punkte und bildet Indizes. Je höher der Wert des Index, desto „gouvernementaler“ ist der beschriebene Aspekt, sei es ein einzelnes Verfahren oder die Gesamtheit. Die politischen Systeme der analysierten Länder unterteilt Vospernik angelehnt an Lijphart in die Typen „Mehrheitsdemokratie“ (mit eher schwachen Parlamenten und Ein-Parteien-Regierungen) und „Konsensdemokratie“ (mit eher konsensorientierter Entscheidungs­findung, starkem Parteienwettbewerb und großen Mehrparteien-Regierungen). Er vereint diese beiden Analysedimensionen in seiner Arbeit, indem er nach dem Zusammenhang zwischen der jeweils vorherrschenden Form von Volksentscheiden (gouvernemental-oppositionell) und dem Demokratie-Typ (Mehrheitsdemokratie-Konsensdemokratie) fragt. 

3. Ergebnisse

Der Autor kann 123 der 183 Volksentscheide in sieben der
15 Staaten eindeutig einem der beiden Typen zuordnen:

  • I. Mehrheitsdemokratien mit „gouvernementaler“ Direktdemokratie: Frankreich, Polen und Litauen: 30 Volksabstimmungen in drei Staaten

  • II. Konsensdemokratien mit „oppositioneller“ Direktdemokratie: Italien, Slowenien, Slowakei, Dänemark: 93 Volksabstimmungen in vier Staaten 

Die verbliebenen 60 Volksabstimmungen wurden Mischtypen zugeordnet:

  • III. Mischtyp 1: Mehrheitsdemokratien mit oppositioneller Direktdemokratie: Portugal, Ungarn, Malta: 13 Volksabstimmungen in drei Staaten

  • IV. Mischtyp 2: Konsensdemokratien mit gouvernementaler Direktdemokratie: Estland, Irland, Lettland, Rumänien, Schweden: 45 Volksabstimmungen in fünf Staaten. 

In den detaillierten Länderstudien (Kapitel 5.4) gelingt es Vospernik, alle relevanten Informationen und viele sorgfältig recherchierte Details zu den Regelungen und zur Praxis der direktdemokratischen Verfahren verständlich darzustellen. Er untersucht ferner die Themenverteilung: Häufigste Themen der Volksabstimmungen waren EU-Fragen und Wahlrechtsfragen, danach folgen moralische Fragen wie Abtreibung oder Scheidung. Die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung bei den 183 Volksabstimmungen betrug 46,5 Prozent, ein Wert, der dem Durchschnitt in der Schweiz verblüffend nahe kommt. 39,3 Prozent der 183 Abstimmungen gingen im Sinne der Initiator/innen aus. Bei Verfahren, die „von oben“ initiiert wurden (50 Vorlagen der Regierung/des Parlaments), betrug die formelle Erfolgsquote 46 Prozent. Sie lag damit etwas höher als bei den 133 „oppositionellen“ Vorlagen (36,8 Prozent). Die eigentlich neutralen obligatorischen Referenden ordnet Vospernik stets als „schwach oppositionell“ wirkend ein, da sie der Opposition eine zusätzliche Profilierungschance eröffnen. 40 Prozent der 183 Abstimmungen scheiterten „unecht“ an einem Abstimmungsquorum. Dass in Italien sehr viele Volksentscheide erfolglos bleiben, weil das dortige Beteiligungsquorum von 50 Prozent zu Boykotten geradezu einlädt, war bereits bekannt. Der Autor weist solche Boykottstrategien aber auch in anderen Ländern nach. Der Autor zieht hinsichtlich der Frage, ob „von oben“ ausgelöste Volksabstimmungen ein zusätzliches Machtmittel für Regierungen darstellen, folgendes interessantes Fazit: „Für die 15 Staaten dieser Studie kann somit mit Fug und Recht behauptet werden, dass Referenden kein taugliches Machtmittel in den Händen der Regierenden sind, weswegen von einem (weiter) rückläufigen gouvernementalen Einsatz direkter Demokratie ausgegangen werden muss. Teils extrem niedrige Beteiligungsraten (…) zeigen deutlich, dass sich die Bürger nicht als billiges Stimmvieh vor den Karren durchsichtiger Parteipolitik spannen lassen. Doch haben sie die Lust am Mitbestimmen auch nach jahrelangem parteipolitischen Missbrauch der Volksrechte nicht verloren“ (S. 703). 

4. Kritik und Leistungen

Kritik 

  • Die Zuordnung zu wenigen Modell-Ländergruppen hat naturgemäß Schwächen. Sehr heterogene Länder mit großen Unterschieden in den Volksentscheids-Regelungen und in der Praxis werden derselben Ländergruppe zugeordnet. Ein Beispiel ist die Gruppe „Mischtyp 2: Konsensdemokratien mit gouvernementaler Direktdemokratie“. Hier findet man Schweden mit zwei unverbindlichen Volksbefragungen und Irland, das seit 1990 insgesamt 22 verbindliche obligatorische Verfassungsreferenden erlebt hat.

  • Vospernik bezieht sämtliche Arten von Volksabstimmungen ein, die es gibt: Plebiszite, unverbindliche Volksbefragungen, „von unten“ initiierte Volksbegehren. Dies schafft natürlich eine große Bandbreite an Verfahren und Praxis, die einen Vergleich der sehr heterogenen politischen Systeme und direktdemokratischen Kontextbedingungen erschwert: Der Autor räumt selbst ein: „Jedes politische System hat seine eigene direktdemokratische Theorie und Praxis, die nicht so wie Wahlsystem, Parlamentsstruktur oder Parteiensystem länderübergreifend verglichen werden kann“ (S. 699).

  • Er hätte sich darauf beschränken können, Länder mit verbindlichen Volksentscheiden zu analysieren. Das hätte einen direkten Vergleich erleichtert, jedoch gleichzeitig die Zahl der zu analysierenden Staaten stark verringert.

  • Der Untersuchungszeitraum 1990-2012 war geprägt durch außergewöhnliche Ereignisse: Zahlreiche EU-Beitrittsreferenden und EU-Vertragsreferenden, die Entstehung von neuen Staaten in Ost- und Mitteleuropa, politische Krisensituationen in Südeuropa. Die gewonnenen Erkenntnisse haben somit nur begrenzte Allgemeingültigkeit. Der Autor selbst kommentiert dies nicht. Ob das gewählte Untersuchungsdesign und die Fragestellungen von der Wissenschaft aufgegriffen werden, wird die Zukunft zeigen. Interessant wäre es zum Beispiel, wenn 2035 ein/e Forscher/in das Design aufgreift und dieselben Länder im Zeitraum 2013-2035 analysiert. 
  • Bedingt durch die Fallauswahl – er berücksichtigt nur Staaten der Europäischen Union – klammert Vospernik die Schweiz und Liechtenstein als die beiden europäischen Staaten mit der intensivsten direktdemokratischen Praxis aus. Allein in der Schweiz fanden von 1990-2012 insgesamt 214 Volksabstimmungen statt – mehr als in den 15 untersuchten Staaten zusammen. Zumindest ab und zu wäre daher ein Seitenblick auf die Schweiz (etwa hinsichtlich der durchschnittlichen Abstimmungsbeteiligung) interessant und wünschenswert gewesen. 

Leistungen 

Den Kritikpunkten sind die großen Leistungen dieses Werkes gegenüberzustellen:

  1. Zuallererst ist „Modelle der direkten Demokratie“ ein hervorragendes, kenntnisreiches und detailliertes Nachschlagewerk für die Regelungen und Praxis der Volksabstimmungen in den untersuchten 15 Ländern. Das Werk liefert dabei auch Daten und Informationen zu Ländern, die man nicht unmittelbar mit Volksabstimmungen assoziiert – wie etwa Rumänien. 
  1. Insgesamt stellt Vospernik die Heterogenität und Komplexität der sehr unterschiedlichen Verfahrensdesigns und Praxis der Volksabstimmungen deutlich dar: Sehr anschaulich, kenntnisreich und verständlich schildert er die landesspezifischen Besonderheiten und Machtverhältnisse. 
  1. Das Werk ist schließlich für weitere vergleichende Forschungen fruchtbar und hilfreich. Das Kapitel 3 „Fragmente einer Theorie direkter Demokratie“ enthält wertvolle Informationen und auch einen umfangreichen Abschnitt zur „vergleichende Direktdemokratieforschung“. 

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