David Van Reybrouck: „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist.“

David Van Reybrouck: „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist.“, Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 200 Seiten, 17,90 Euro, ISBN: 978-3-8353-1871-7.

GEGEN WAHLEN

Der belgische Autor David Van Reybrouck will mit Losverfahren die Demokratie verbessern.

von Karl Martin-Hentschel (Vorstandsmitglied von Mehr Demokratie)

Gleich vorweg: Der Titel ist irreführend. Van Reybrouck stellt Wahlen nicht grundsätzlich in Frage, sondern plädiert dafür, gewählte Gremien (Parlamente) mit gelosten Kammern zu ergänzen. Er beginnt sein Buch mit der üblichen Auflistung von Symptomen, an denen das aktuelle System leidet: Die Wahlbeteiligung sinke ebenso wie die Zahl der Parteimitglieder. Das Vertrauen in die Politik nehme ab, die Wählerwanderungen zu, und „dem Parlament droht Blutarmut“.

Als eine Ursache sieht er, dass sich zwischen den Wähler/innen und den Kandidierenden immer mehr Intermediäre – Parteien, Presse, soziale Medien – etabliert haben, die das Bild von der Politik und den Politiker/innen in der Öffentlichkeit prägen. Am Ende dieser Entwicklung stehe die Postdemokratie: „Konkurrierende Teams professioneller PR-Experten kontrollieren die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt.“ Um dieses fatale Zusammenspiel aufzumischen, schlägt Van Reybrouck eine geloste Parlamentskammer vor. Er erinnert daran, dass im alten Athen und den italienischen Stadtrepubliken viele Ämter ausgelost wurden. Das Losverfahren galt als demokratisch, das Wahlverfahren als oligarchisch, da dann meist die Vertreter/innen der mächtigen Familien gewählt wurden.

Die Gründerväter der USA und der französischen Republik setzten dagegen ganz auf Wahlen, gerade weil sie eine Elitendemokratie anstrebten. Arbeiter und Dienstboten ohne Besitz waren noch nicht einmal wahlberechtigt. Deshalb konzentrierte sich der politische Kampf für mehr Demokratie im 19. Jahrhundert darauf, das allgemeine und gleiche Wahlrecht durchzusetzen – zunächst für Männer, dann für Frauen. Losverfahren gerieten in Vergessenheit.

Heute werden sie wieder erprobt, etwa in der Verfassungsreform zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland. Während ein ähnliches Vorhaben der französischen Regierung Massendemonstrationen auslöste, wurde die Verfassungsänderung in Irland von einer Versammlung diskutiert, die zu einem Drittel aus Parlamentarier/innen und zu zwei Dritteln aus zufällig ausgelosten Menschen bestand. Das Ergebnis fand in der anschließenden Volksabstimmung 62 Prozent Zustimmung.

Doch lag der irische Erfolg nur an der Zusammensetzung des Konventes, wie Van Reybrouck den Anschein erweckt? Eher hatte die Volksabstimmung einen wesentlichen Anteil. Dass sich Van Reybrouck mit direkter Demokratie gar nicht befasst, ist angesichts seiner Ausgangsanalyse ärgerlich. Er handelt direkte Demokratie ausgerechnet am Beispiel der Occupy-Bewegung ab.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Konsensdemokratie und dem Wechselspiel von Parlament und Volksentscheiden in der Schweiz fehlt. Schade! Zur Debatte um eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung, in der auch geloste Gremien diskutiert werden, leistet Van Reybrouck dagegen mit seinem Vorschlag einer zweiten gelosten Kammer, die an die Seite des gewählten Parlamentes tritt, einen wertvollen Beitrag. Er passt zu einer Idee, die zur Zeit auch bei Mehr Demokratie diskutiert wird: Vor einem Volksentscheid soll ein gelostes Gremium einen dritten Alternativvorschlag zu dem der Initiative und dem des Parlamentes erarbeiten. Dann könnte die Entscheidung im Volksentscheid durch eine Präferenzwahl erfolgen.

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