Chronologie über die Reformierung des Europawahlrechts

Nachdem die Reformen des Europawahlrechts aus dem Jahre 2018 im Sande verlaufen sind, hat das Europäische Parlament im Mai 2022 erneut einem Reformversuch zugestimmt. Umstritten sind die transnationalen Listen, mit denen zukünftig 28 Mandate über europaweite Listen vergeben werden sollen, sowie die Einführung einer verbindlichen Sperrklausel für Parteien. In Deutschland wurde die Sperrklausel bei Europawahlen bereits zwei Mal vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig gesehen.

Wir haben alles Wissenswerte zur aktuellen Reform, den Fortschritten im Gesetzgebungsprozess und Hintergründen zusammengestellt.

Vorgeschichte:

Die Debatte um die Einführung einer Sperrklausel bei Europawahlen begann mit der rechtlich verbindlichen Verordnung 76/787/ECSC, EEC, Euratom am 20. September 1976. Diese basierte auf Artikel 223 § 1 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die den rechtlichen Rahmen der Wahl für die Mitglieder des EU-Parlaments bildet. Die Mitgliedsstaaten müssen den Vorgaben dieser Verordnung folgen. In diesem Rahmen beschließen sie Gesetze, auf Grundlage deren die Europawahl durchgeführt wird. In Deutschland ist dies das Europawahlgesetz. Man spricht daher auch immer im Plural von Europawahlen, da sie national durchgeführt werden. Den Mitgliedsstaaten ist es auch überlassen eine Sperrklausel von höchstens 5 Prozent einzuführen.

In Deutschland wurde eine Sperrklausel zweimal vom Bundesverfassunggericht in den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt, da die Wahl- und Chancengleichheit eingeschränkt würde. Diese Einschränkung sei nur zulässig, wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments ansonsten beeinträchtigt sei. Immer wieder scheiterten Versuche seitens des Europäischen Parlaments eine Sperrklausel für alle Mitgliedsstaaten umzusetzen an deren Widerstand. Am 13. Juli 2018 stimmte der Rat der Europäischen Union einer verbindlicher Sperrklausel für alle Mitgliedsstaaten zu. Sie sollte ab 35 Sitzen gelten und zwischen 2 und 5 Prozent liegen. Betroffen gewesen wären Polen, Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland. Die Reform des Wahlrechts wurde von den Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen. Da jedoch jeder Mitgliedstaat diese Verordnung in das nationale Europawahlgesetz übernehmen muss, ist der Ratsbeschluss bis zum heutigen Tag noch immer nicht in allen Mitgliedsstaaten in Kraft getreten, unteranderem in Deutschland. Die Umsetzung wurde auf die Europa-Wahl 2024 vertagt.

26. November 2020: Resolution des Parlaments

Die Europawahl 2019 zeichnete sich durch eine hohe Wahlbeteiligung aus, aber auch durch das Scheitern des Spitzenkandidatensystems. Im Europäischen Parlament wurden daraufhin Reformansätze für die Europawahlen erörtert. Die Debatte wurde insbesondere im Komitee für konstitutionelle Angelegenheiten geführt und mündete in einer Resolution im EU-Parlament. Diese wurde am 26. November 2020 verabschiedet. Der Fokus dieser Resolution lag auf der Errichtung eines einheitlichen Europäisches Wahlsystems. Die Wahl sollte dadurch transparenter, europanäher und zugänglicher gestalten werden. Zudem zielte die Resolution auf tiefgreifendere demokratische Reformen, zu denen die Kontrolle über die Kommission als vollwertige Unionsregierung durch das EU-Parlament gehört. Beim Wählen sollte auch gezielt Anwärterinnen oder ein Anwärter für die Kommissionspräsidentschaft unterstützt werden können. Eine neue Unionswahlbehörde sollte für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl sorgen. Von einer Sperrklausel war keine Rede.

24. November 2021: Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition

Im Koalitionsvertrag haben die SPD, die Grünen und die FDP eine Reform des Europawahlrechts für unabdingbar erklärt. Ein Vorschlag der EU bis zum Sommer 2022 wurde gefordert. Sollte dieser nicht erfolgen, werde man die bisher nicht ratifizierte Verordnung von 2018 in das Europwahlgesetz übernehmen und mit die vom Verfassungsgericht bereits als verfassungswidrige Sperrklausel.

29. März 2022: Finaler Version der Bestandsaufnahme

Auf Grundlage der Resolution aus dem Jahre 2020 arbeitete der Ausschuss für konstitutionelle Fragen die Bestandsaufnahme zu den Wahlen zum Europäischen Parlament aus. Diese beinhaltete zudem einen Gesetzesvorschlag für den Rat der Europäischen Union. Am 29. März 2022 wurde im Ausschuss der Entwurf finalisiert.

In Artikel 13 des Entwurfs, der vom 03. Juni 2021 stammt, wurde bisweilen den Mitgliedsstaaten weiterhin offen gelassen, ob sie eine Sperrklausel einführen oder nicht. Erst in der finalen Sitzung wurden die Anträge zu einer Einführung der Sperrklausel beschlossen. Dabei gab es in dem Ausschuss keinen Konsens über diese Entscheidung. Damian Boeselager als Mitglied der Kleinpartei Volt plädierte für ein Verbot von Sperrklauseln (Antrag 459). Letzten Endes wurde ein Kompromiss beschlossen, der sich an dem Antrag 460 von Sven Simon aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei orientierte. So blieb die Einführung der Sperrklausel von bis zu 5 Prozent weiterhin optional, allerdings nur für Mitgliedsstaaten, die weniger als 60 Sitze verfügen (im Reformvorschlag von 2018 waren es 35 Sitze). Mitgliedsstaaten mit mehr als 60 Sitze müssen eine Sperrklausel von mindestens 3,5 Prozent einführen. Dies betrifft aktuell Deutschland, Frankreich und Italien. Deutschland ist davon das einzige Land ist, welches noch nicht über eine Sperrklausel verfügt und deswegen als einziger Mitgliedstaat von dieser Regelung betroffen ist. Parteien, die nationale Minderheiten vertreten oder in einem Viertel der Mitgliedsstaaten registriert sind und insgesamt eine Millionen Stimmen erhalten, sind von der Sperrklausel ausgeschlossen. 

04. April 2022: Finale Version wird ans Plenum weitergereicht

Die finale Version wurde mit 19 Stimmen für und 9 Stimmen dagegen im Ausschuss angenommen und am 04. April 2022 für das Plenum eingereicht. Unterstützt wurde der Vorschlag von den Fraktionen der Grünen, der S&D, der Linken und Renew. Abgelehnt wurde der Gesetzesvorschlag von den Fraktionen der Europäischen Konservativen und Reformern sowie der Fraktion Identität und Demokratie. Die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei verteilten sich auf beide Lager.

03. Mai 2022: Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments

Dort wurde der Gesetzesvorschlag nach einer kurzen Debatte - aus lediglich drei der anwesenden Parlamentariern - mit einer einfachen Mehrheit angenommen. Neben der für manche Mitgliedsstaaten verbindlichen Sperrklausel wurde nun ebenfalls die Gründung unionsweiter Wahlkreise beschlossen. Diese umfassen die zusätzlichen 28 Plätze im EU-Parlament (Artikel 15) und sollen mit Hilfe des d’Hondt-Verfahrens besetzt werden. Für die transnationalen Listen würde damit ein anderes Auswahlverfahren angewendet als das momentan sowohl für die Europa- wie auch für die Bundestagswahlen genutzte Sainte-Laguё-Verfahren. Zudem müssen die Listen paritätisch besetzt werden, sprich gleichermaßen mit Männern und Frauen. Der Grund für die transnationalen Listen ist die in der Resolution bereits erwähnte Forderung den Wahlprozess zu zentralisieren und transparenter gestalten. Da die Europawahlen in einem nationalen Rahmen stattfanden, waren es auch die nationalen Parteien mit ihren oft nationalen Themen, die den Wahlkampf bestimmten. Mit Hilfe transnationaler Listen werden die Europäischen Parteien, die meist stiefmütterlich behandelt wurden, eine zentralere aber vor allem unersetzliche Rolle spielen.

Die Qualität der Europäischen Wahlen ist aus Sicht das Europäischen Parlaments eine Voraussetzung für eine demokratischere Europäische Union, denn dafür bräuchte es ein starkes Parlament. In diesem Kontext lohnt es sich auf die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zurückzukommen: Die Einführung der Sperrklausel für Europawahlen sei dem Urteil nach nicht gerechtfertigt, da eine Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht festgestellt werden konnte, welches im Gegensatz zum Bundestag bspw. keine Regierungsverantwortung trägt. Der momentane Reformversuch könnte auch als Absicht, sich in Richtung eines vollwertigen Parlaments transformieren zu wollen, gedeutet werden, für das die gleichen Regeln gelten sollen wie für jedes andere Parlament.

20. Mai 2020: Vorschlag an Ratspräsidentschaft übermittelt

Die gesetzliche Entschließung des EU-Parlaments hatte zur Folge, dass die Präsidentin des Parlaments, Roberta Metsola, den Gesetzesvorschlag am 19. Mai 2022 an Jean-Yves le Drian, den Außenminister Frankreichs, das damals die Ratspräsidentschaft innehatte, sendete. Seitdem wurde der Gesetzesvorschlag weder vom Ministerrat noch von COREPER bearbeitet. Das Parlament hat bei der Reformierung des Wahlrechts keine legislativen Befugnisse. Die Zukunft der Reform liegt deswegen in den Händen der Minister im Rat der Europäischen Union.

18. Oktober 2022: Ablehnende Reaktion der Mitgliedsstaaten

Nachdem sich die Mitgliedsstaaten in informellen Kreisen bereits mit der Wahlrechtsreform auseinandergesetzt haben findet heute die erste öffentliche Sitzung im Rat für allgemeine Angelegenheiten statt. Unter dem Vorsitz Tschechiens hat sich jeder Mitgliedsstaat, der von einem ständigen Repräsentanten, einem Außen- oder einem Europaminister vertreten ist, zu der Thematik geäußert. Interessanterweise ist das Thema der Sperrklausel nicht Gegenstand der Thematik, selbst die Deutschland repräsentierende Staatsministerin für Europa Anna Lührmann lässt das Thema unerwähnt. Im Fokus der Aussprache steht die Verfassungskonformität sowie politische Vorbehalte dem Maßnahmenkatalogs des Parlamentsvorschlags gegenüber. Schnell zeichnet sich eine kritische Haltung der Mitgliedsstaaten bezüglich der angesprochenen Themen ab.

  • 09. Mai als europaweiter Wahltag

    Äußerst viel Raum wird dem Vorschlag für den 09. Mai als gemeinsamer Wahltag zum Europaparlament gegeben, der im Entwurf des Parlaments lediglich ein Vorschlag unter vielen ist. Grund dafür ist vielleicht, dass sich die Mitgliedsstaaten bzw. deren Parlamente, die die letztendlichen Entscheidungsträger sind, noch nicht ausreichend mit der Thematik beschäftigt haben und dieses Thema vergleichsweise einfach zugänglich ist; entsprechend zeigt sich auch ein schneller Konsens ab. Einen einheitlichen Wahltermin bei allen verschiedenen Wahltraditionen zu erreichen ist nämlich aus folgenden Gründen schwierig: in den meisten Ländern darf der Verfassung nach nur am Sonntag gewählt werden, es kann sich also nach keinem Datum gerichtet werden sondern allenfalls nach dem ersten Sonntag nach dem 09. Mai. Allerdings gibt es auch Länder wie die Niederlande, die an jedem Wochentag außer am Sonntag wählen dürfen, sodass man sich europaweit nicht einmal auf einen Wochentag einigen könnte. Diese Konflikte stehen exemplarisch wie ein vermeintlich kleiner Vorschlag große Auswirkung haben kann, vor allem weil die Festlegung von Wahlterminen oft Verfassungsrang hat. Dadurch würde sich das Übernehmen der europäischen Verordnung ins nationale Recht weiter erschweren und der Reformversuch von 2018 beweist, dass selbst Änderungen ohne Verfassungsrang an den Gerichten scheitern können.

  • Transnationale Listen

    Der Elefant im Raum ist allerdings der ambitionierteste Vorschlag des europäischen Parlaments: die Einführung 28 transnationaler Listenplätze. Über einen EU-weiten Wahlkreis sollen Abgeordnete europäischer Parteienfamilien in jedem Mitgliedsstaat der EU wählbar sein. Während sich Deutschland, Frankreich und Luxemburg klar für die transnationalen Listen positionieren, sind die anderen Mitgliedsstaaten zurückhaltender. Länder wie Rumänien, Spanien und Slowenien zeigen sich offen, stellen allerdings Anforderungen an der Umsetzung. So dürfen sich die Proportionen im Parlament nicht zugunsten von größeren Mitgliedsstaaten ändern. Dieses Argument hält sich hartnäckig, auch nachdem Lührmann auf die im Gesetzesvorschlag enthaltenen Quoten hingewiesen hat, die das Verhältnis sogar zugunsten kleiner Mitgliedstaaten verändert. Zusätzlich gibt es eine Reihe Mitgliedsstaaten, die ihre Ablehnung juristisch und politisch begründen wie bspw. Dänemark, Portugal und Ungarn. Hauptgrund ist immer der Verstoß des Subsidiaritätsprinzips (alles auf der kleinstmöglichen Ebene regeln) und der Verhältnismäßigkeit (nicht die Zuständigkeiten der EU überschreiten); beide Grundsätze müssen eingehalten werden damit die EU in ihren Zuständigkeitsbereichen handeln kann. Einer weiteren Erläuterung wie die Gegner zu dem Schluss kommen, dass beiden Grundsätze nicht eingehalten werden bleiben die Mitgliedsstaaten allerdings schuld.

    Kein Konsens herrscht zudem bezüglich der Auswirkung transnationaler Listen. Während Befürworter behaupten, es binde die EU und die Wähler wieder enger aneinander, weil es die europäische Öffentlichkeit und folglich das Identitätsgefühl stärkt, entgegnen die Gegner, dass sich Wähler mit transnationalen Abgeordneten noch weniger identifizieren. Eine Rolle spielt auch die demokratische Praxis des jeweiligen Mitgliedsstaates: Staaten, in denen die Personalwahl ein wichtiger Faktor ist, kritisieren dies eher als Staaten mit reinen Verhältniswahlrecht, wo die Abgeordnete nicht einen Wahlkreis sondern ihre Partei vertreten.

Wenn sich die Länder einig sind, dann darin, dass sie Teile des Vorschlags ablehnen. Am Rande wird immer wieder auf die Reform aus dem Jahr 2018 verwiesen, die bereits von den Mitgliedsstaaten beschlossen ist (siehe oben). Bevor die EU eine weitere Wahlrechtsreform beschließen möchte, sollte Schweden zufolge erst, diese von allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Schließlich bringe eine Wahlrechtsreform am Ende nur wenig wenn sie nicht von allen Mitgliedsstaaten angewendet wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reform schlecht stehen. Selbst wenn sich ein Konsens im Rat der Europäischen Union bilden wird, sind es immer noch die nationalen Parlamente, die die national verankerten Europawahlgesetze ändern müssen. Bereits jetzt haben sich das irische und das portugiesische Parlament gegen transnationale Listen und damit dem Herzstück der Reform ausgesprochen. Für Deutschland bleibt das Thema Sperrklausel weiterhin ungeklärt, womit die Reform juristisch anfechtbar sein wird. Ein vorzeitiges Scheitern sollte aber noch nicht verkündet werden.

19. Oktober 2022: CDU Vorschlag zur 2%-Sperrklausel

Die Union hat einen Entwurf für eine Änderung des Europawahlgesetz eingereicht, welcher die Einführung einer 2%-Sperrklausel für die Europawahlen vorsieht. Dieser Wert stammt nicht von ungefähr, denn es handelt sich dabei um die Mindestsperrklausel in der Reform von 2018 für Länder wie Deutschland. Das aktuelle Europawahlgesetz sieht bislang keine Sperrklausel vor, obwohl Deutschland einer Sperrklausel 2018 im Rat der Europäischen Union bereits zugestimmt hat. Die Verabschiedung dieses Gesetzesvorschlags, wofür Stimmen der Regierung benötigt werden, sieht aussichtslos aus.

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