Frank Rehmet, Tim Weber, Neelke Wagner: Volksabstimmungen in Europa

Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich | AutorInnen/HerausgeberInnen: Frank Rehmet, Neelke Wagner, Tim Weber | Verlag Barbara Budrich 2019 | Format A5 | 202 Seiten | 1. Auflage | ISBN 978-3-8474-2275-4

Volksabstimmungen in Europa

von Dr. Paul Tiefenbach

Zwei Mitarbeiter von Mehr Demokratie, Frank Rehmet und Tim Weber, sowie eine ehemalige Mitarbeiterin, Neelke Wagner, haben ein Buch vorgelegt, das alle europäischen Volksentscheide, die unter demokratischen Verhältnissen stattfanden, auflistet. Es ist nicht nur als Nachschlagewerk interessant, die Lektüre bietet auch einige Überraschungen.

Zunächst: Es geht der Autorin und den Autoren nur um Volksentscheide auf nationaler Ebene, also nicht um Bürgerentscheide in Kommunen oder Volksentscheide in Bundesländern. Untersucht werden Sachabstimmungen, nicht Direktwahlverfahren, wie zum Beispiel die Wahl des französischen Präsidenten. Landesweite Volksentscheide in Europa? Man neigt zu der Auffassung, dass es da außerhalb der Schweiz doch nicht viel gibt. Aber weit gefehlt. Sage und schreibe 1050 Volksentscheide und weitere 50 Volksbefragungen haben bislang in den untersuchten 43 europäischen Staaten stattgefunden! In 41 der 43 Staaten kann die Bevölkerung wenigstens ab und zu über landesweite Themen abstimmen. Die einzigen europäischen Staaten, in denen es das gar nicht gibt, sind das Fürstentum Monaco und die Bundesrepublik Deutschland.

Die Unterschiede zwischen den Ländern sind allerdings enorm, sowohl was die Zahl, als auch was die Art der Volksentscheide angeht. Die Schweiz liegt überall klar vorn, gefolgt vom Fürstentum Liechtenstein. In diesen beiden Ländern fanden etwa drei Viertel der europäischen Volksentscheide statt. Auf dem dritten Platz folgt Italien mit 70 Volksentscheiden, dann Slowenien, Litauen und das kleine San Marino, das es auf immerhin 25 Entscheide brachte. Aber auch die Wege zum Volksentscheid sind sehr unterschiedlich. Die Autorin und die Autoren unterscheiden vier Möglichkeiten:

  • Von unten, per Volksinitiative oder fakultativem Referendum. Das kennt man natürlich aus der Schweiz. Aber auch in der Slowakei, Ungarn und Litauen gab es zahlreiche Volksinitiativen. Beim fakultativen Referendum dagegen liegt Italien (nach der Schweiz) auf dem zweiten Platz.
  • Automatisch, etwa bei einer Verfassungsänderung. Hier liegt Irland nach der Schweiz auf dem zweiten Platz
  • Von oben, durch den Präsidenten, das Parlament oder die Regierung angeordnet. Interessant ist das besonders dann, wenn auch eine Minderheit im Parlament ausreicht, um einen Volks-entscheid zu starten. Ein Sonderfall sind die sog. „unverbindlichen Volksbefragungen“. Die Regierung oder das Parlament fragen die Bevölkerung nach ihrer Meinung, ohne rechtliche Bindung. Trotzdem wird in der Regel das Votum der Bevölkerung auch um-gesetzt. Beispiel dafür ist etwa die Brexit-Abstimmung in Großbritannien.
  • Mischsysteme: die Bürgerinnen und Bürger sammeln Unterschriften, das Parlament berät das Anliegen, letztlich entscheiden Parlament und Staatspräsident, ob ein Volksentscheid stattfinden soll. Oder: die Opposition im Parlament fordert einen Volksentscheid, er findet aber nur statt, wenn sie auch eine Reihe von Unterschriften sammelt.

Worüber wird eigentlich so abgestimmt? Offensichtlich beschäftigt die Frage der staatlichen Souveränität die Bürgerinnen und Bürger. Den eindeutigsten Volksentscheid dazu gab es 1944 in Island, wo 99,5 Prozent für die Unabhängigkeit von Dänemark stimmten, bei einer Beteiligung von 98 Prozent. 1961 ließ der französische Staatspräsident die Franzosen darüber abstimmen, ob Algerien unabhängig werden solle – drei Viertel waren dafür. In zahlreichen Ländern gab es auch Abstimmungen für oder gegen den Bei-tritt zur Europäischen Union. Zwei Mal stimmten die Spanier über den Verbleib in der Nato ab. Litauen hat die Regelung, dass ein Volksentscheid bei der Übertragung von Souveränitätsrechten auf inter-nationale Organisationen stattfinden muss. Andere Themen, die immer wieder vorkommen, sind das Abtreibungsrecht und Änderungen am Wahlrecht.

Die Anwendungsfreundlichkeit des Verfahrens ist ganz entscheidend für die Zahl der gültigen Volksentscheide. Be-sonders das Abstimmungsquorum spielt in vielen Ländern eine fatale Rolle. Bekanntlich gibt es in der Schweiz gar kein Abstimmungsquorum, und das ist ein wichtiger Grund für das gute Funktionieren der direkten Demokratie dort. Auch in Irland gibt es kein Quorum. In Litauen dagegen scheiterten alle zehn Volksinitiativen am Abstimmungsquorum von 50 Prozent. Und das, obwohl wegen der hohen Unterschriftenhürde von zwölf Prozent nur Initiativen zur Abstimmung kamen, die breite Unterstützung haben. Ein hohes Quorum scheint übrigens zu einer eher niedrigeren Beteiligung zu führen. Bis 2012 gab es in Slowenien kein Abstimmungsquorum, die durchschnittliche Beteiligung betrug 31,9 Prozent. Seit 2013 gibt es ein Abstimmungsquorum von 20 Prozent und die Beteiligung sank auf durchschnittlich 20,9 Prozent. Manche gehen nicht mehr hin, weil die Abstimmung möglicherweise ohnehin ungültig sein wird.

Das Buch bringt einen auf neue Ideen. Obligatorische Volksentscheide bei Übertragung von Hoheitsrechten, wie in Litauen, sollte es auch in Deutschland geben. Anregend fand ich auch das dänische Oppositionsreferendum. Ein Drittel des Parlaments kann einen Volksentscheid zu beschlossenen Gesetzen beantragen. Da-für müssten doch eigentlich die Oppositionsparteien im Bundestag zu gewinnen sein? Oder das fakultative Referendum Italiens: Ein Prozent der wahlberechtigen Bürgerinnen und Bürger können eine Abstimmung über ein vom Parlament beschlossenes Gesetz verlangen. Gäbe es nicht das hohe Beteiligungsquorum beim Volksentscheid, wären das keine schlechten Bedingungen. Schon 65 Mal haben die Italiener das fakultative Referendum genutzt. Natürlich bleiben die dänischen und italienischen Regelungen meilenweit hinter der Schweiz zurück. Aber sie könnten vielleicht als Türöffner dienen um neue Bewegung in die eingefrorene Debatt

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