Alle 4 Jahre dürfen wir Bürgerinnen und Bürger bei der Bundestagswahl unsere Stimme abgeben. Die Wahlen sind Momente, in denen wir Demokratie konkret spüren, weil wir direkt beteiligt sind und sehen, dass es auf uns und unsere Haltung ankommt. Wahlen sind der Moment, in dem eine Bestandsaufnahme unserer gesammelten Haltungen gemacht wird und diese Präferenzen in ein möglichst repräsentatives Parlament und darauf aufbauend, in eine Regierung, übersetzt werden. Wie das genau geschieht, wird maßgeblich bestimmt durch die Ausgestaltung unseres Wahlrechts. Und das ist nicht gottgegeben, sondern vom Parlament gemacht und natürlich auch durch das Parlament wieder veränderbar.
Das besondere Problem beim Wahlrecht ist nur, dass alle Parteien, die im Parlament vertreten sind, von einer Änderung des Wahlrechts potenziell betroffen sein können und daher Angst um ihre Sitze haben. Dementsprechend gering ist die Bereitschaft, das Wahlrecht zu reformieren oder überhaupt erst eine offene Debatte dazu zu führen, wie ein gutes Wahlrecht in der heutigen Zeit aussehen kann. Doch der Druck steigt. Nicht nur weil das aktuelle Wahlrecht tendenziell den Bundestag durch immer mehr Überhangmandate aufbläht und damit immer teurer macht. Der Druck steigt auch, weil sich die Gesellschaft weiter ausdifferenziert und es immer weniger Stimmen für die einst großen Volksparteien gibt, die nicht mehr glaubhaft die Anliegen von so vielen verschiedenen Gruppen abdecken können. Das führt dazu, dass immer mehr Menschen auch kleinere Parteien wählen und auch größere Parteien immer öfter an der Fünf-Prozent-Hürde hängen bleiben (siehe hier). Alle Stimmen für Parteien und Gruppierungen unter 5 Prozent, sind im aktuellen System "verlorene" Stimmen, die in den Landtagen und im Bundestag nicht repräsentiert sind.
Eine Idee, die hier Abhilfe schaffen kann, ist die sogenannte Ersatzstimme. Sie ist ein vielschichtiges Konzept, das verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten hat, die dann wiederum verschiedene Effekte erzielen. Auch die Wahlrechtskommission des aktuellen Bundestages, die derzeit an einem neuen Bundestagswahlrecht arbeitet, hat jetzt eine neue Variante der Ersatzstimme vorgeschlagen.
Mehr Demokratie hat das zum Anlass genommen, eine Tagung zum Thema Ersatzstimme zu organisieren: Am 22./23. Oktober 2022 kamen über 60 Menschen in Berlin zusammen, um das Potenzial der Ersatzstimme zu diskutieren und dazu beizutragen, diese vielversprechende Idee mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken.
Der häufigste Einsatz einer Ersatzstimme ist die Möglichkeit bei der Zweitstimme (im folgenden Parteienstimme genannt) neben einer ersten Wahl auch eine zweite Wahl angeben zu können. Scheitert die erstgewählte Partei an der Fünf-Prozent-Hürde, zählt automatisch die Ersatzstimme.
Hätten wir eine solche Option im Wahlrecht:
Im Ergebnis gäbe es einen faireren Wettbewerb zwischen den Parteien. Manche sind auch der Meinung, dass eine Fünf-Prozent-Hürde ganz abgeschafft gehört, weil Deutschland eine gefestigte Demokratie ist und auch Parlamente mit mehr Parteien nicht zur Unregierbarkeit führen. In der Tat ist es gar nicht so einfach, das Gegenteil und damit die Notwendigkeit der Hürde zu beweisen. Das Verfassungsgericht hat deswegen die Hürde bei den Kommunal- und Europawahlen schon als unzulässig abgewehrt.
Eine andere Variante der Ersatzstimme kann bei der Wahl der Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten eingesetzt werden. Das würde bedeuten, dass die Wählerinnen und Wähler bei der Personenstimme (Erststimme), die Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten einfach durchnummerieren. Sie beginnen mit ihrem Favoriten oder ihrer Favoritin und werten alle übrigen Kandidatinnen und Kandidaten nach ihrer Präferenz. Man muss nicht allen eine Nummer geben und kann auch zum Beispiel nur die Plätze 1-3 vergeben. Bei der Auszählung werden dann erst für jeden Kandidaten oder jede Kandidatin die Erststimmen gezählt ("wie oft ist jemand auf Platz 1 gekommen?") und dann wird die- oder derjenige mit den wenigsten Erstpräferenzen aus dem Rennen genommen und die Stimmen werden anhand der Zweitpräferenzen ( Platz 2) auf die übrigen Kandidatinnen und Kandidaten verteilt. Das geschieht so lange, bis eine Person mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann. So wird nicht nur die Legitimation erhöht, sondern es gewinnt wirklich die Person, die die meisten Stimmen (aus den verschiedenen Lagern) auf sich vereinigen kann. Da es immer weniger eine klare links-rechts Verortung der Menschen gibt, ist dieses System am besten geeignet, zu messen, wen die meisten Menschen als Kompromiss unterstützen würden.
Dieses System hätte wohl einen großen Effekt und würde dazu führen, dass es vielerorts am Ende tatsächlich andere Personen über die Direktwahl ins Parlament schaffen, als unter dem geltenden System. Zudem würde der demokratische Wettbewerb vor Ort gestärkt, weil ich wieder ohne Angst, meine Stimme zu verlieren, denjenigen oder diejenige an Platz 1 setzen kann, der oder die mir am besten gefällt und nicht notwendigerweise nur auf die beiden setzen muss, die (nach oft unsicheren Hochrechnungen) die größte Chance haben, zu gewinnen. Diese Präferenzwahl würde auch bei Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und Landratswahlen durchaus Sinn machen und wird in anderen Ländern auch schon erfolgreich angewandt.
Im Zuge der Konferenz wurde eine Vielzahl an relevanten Fragen diskutiert, die mit der Ersatzstimme und einem demokratischeren Wahlrecht zusammenhängen. Naturgemäß waren vor allem auch Vertreterinnen und Vertreter von kleineren Parteien an dieser Debatte interessiert. Dabei können nicht nur sie gewinnen. Durch eine Ersatzstimme bei der Parteienstimme könnten auch die größeren Parteien profitieren, da viele Menschen, die mit ihrer Erstpräferenz eine kleine Partei wählen, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Ersatzstimme einer größeren Partei geben würden.
Doch viel wichtiger als die Frage nach profitierenden Parteien ist die Frage, ob unsere Demokratie profitiert. Wir von Mehr Demokratie sagen: JA! Weil wir dadurch Menschen in unseren Parlamenten haben, die ihre Arbeit auf eine breite Unterstützung aus ihrem Wahlkreis aufbauen können und weil die Demokratiezufriedenheit steigt, wenn die Menschen freier die Partei und die Person wählen können, die sie am besten vertritt, und sich durch die Ersatzstimme auch stärker in den Parlamenten repräsentiert fühlen. Zu hoffen ist, dass in der Folge auch die in der Tendenz fallende Wahlbeteiligung wieder ansteigt.
Auch wenn der Ampelvorschlag aus der Wahlrechtskommission jetzt angenommen werden sollte, ist der Reformbedarf im Wahlrecht bei Weitem nicht abgearbeitet. Wir werden an diesem wichtigen Thema deswegen auf jeden Fall weiter dranbleiben und freuen uns, wenn Sie das auch tun!
Samstag, 22. Oktober 2022 |
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13:15 Uhr | Einlass in den Tagungssaal im Hotel Rossi |
14:00 Uhr | Ralf-Uwe Beck (Mehr Demokratie e.V.): Begrüßung |
14:15 Uhr |
Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn): |
14:30 Uhr |
Dr. Björn Benken (Institut für Wahlrechtsreform): |
14:45 Uhr |
Prof. Dr. Eckard Jesse (TU Chemnitz): |
15:30 Uhr |
Philipp Barlet (OLG München): |
15:45 Uhr |
Prof. Dr. Matthias Rossi (Universität Augsburg): |
16:30 Uhr | Kaffeepause |
17:00 Uhr |
Prof. Dr. Joachim Behnke (ZU Friedrichshafen): |
18:00 Uhr | Diskussionsrunde
u.a. mit Anne Herpertz (Bundesvorsitzende Piratenpartei) und Wilko Zicht (Wahlrecht.de): |
19:00 Uhr | Ende des ersten Tages |
19:30 Uhr | Das Abendessen kann im Hotel Rossi eingenommen werden; eine Reservierung wird dringend empfohlen. |
Sonntag, 23. Oktober 2022 |
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08:45 Uhr | Einlass in den Tagungssaal im Hotel Rossi |
09:00 Uhr |
Daniel Hellmann (Institut für Parlamentarismusforschung): |
09:45 Uhr | Dr. Stefan Lenz (Münster/Bonn): Die Ersatzstimme im Kommunalwahlrecht |
10:15 Uhr |
Prof. Dr. Hermann Heußner (Hochschule Osnabrück): |
10:30 Uhr |
Prof. Dr. Hermann Heußner/ Dr. Björn Benken: |
10:45 Uhr |
Joachim Wilcke (Brüssel): |
11:15 Uhr |
Workshops (parallel stattfindend): |
12:30 Uhr | Vorstellung der Workshop-Ergebnisse durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer |
12:50 Uhr | Sarah Händel (Mehr Demokratie e.V.): Schlusswort |
13:00 Uhr | Ende der Veranstaltung |
Sowohl in der Wahlrechtskommission wie auch auf der Initiativtagung stand nicht nur der politische, sondern auch der juristisch mögliche Gestaltungsraum des Gesetzgebers bei der Wahlrechtsreform zur Debatte. Prof. Dr. Matthias Rossi erläutert in seinem Vortrag, warum das Bundesverfassungsgericht seinem Urteil nach weniger restriktiv entscheiden wird, als von vielen angenommen.
Neben den Wählern und Wählerinnen gehören Kleinstparteien zu den großen Verlierern und Verliererinnen der Sperrklausel. Aus diesem Grund wird mit Anne Herpetz als Bundesvorsitzende der Partei, die Sperrklausel und eine mögliche Ersatzstimme aus Sicht der PIRATEN-Partei in diesem Gespräch betrachtet.
Als Mitglied der Wahlrechtskommission im Bundestag verteidigt Prof. Dr. Joachim Behnke den Vorschlag der Ersatzstimme für die Erststimme, nachdem dieser sogenannte „Ampelentwurf“, an dessen Entstehung er maßgeblich beigetragen hat, von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen bereits kritisiert wurde.
Björn Benken
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