Goodbye America!

by Alexander Trennheuser – NRW-Geschäftsführer von Mehr Demokratie

Mittwoch, 7. November

Stellen Sie sich vor, es ist Bundestagswahl. Gegen Mittag am Wahltag klingelt Ihr Telefon. Eine freundliche Stimme fragt Sie, wann Sie denn endlich wählen gehen. Undenkbar? Nicht in den USA! Wer wählen war und wer noch nicht den Weg ins Wahllokal gefunden hat, ist hier eine öffentlich zugängliche Information. Die Parteien nutzen diese Info und telefonieren „ihre“ Wähler am Wahltag durch, in der Hoffnung, so die Stammwähler zu aktivieren.

Nach einer kurzen Wahlnacht fahren wir früh am Mittwoch-Morgen nach Lansing, die Hauptstadt von Michigan. Im Bürokomplex des Gouverneurs treffen wir Bill Rustem, der als Strategieberater von Michigans Gouverneur Rick Snyder arbeitet. Er ist ein Kenner direkter Demokratie, hat er doch 1976 eine Initiative für die Einführung eines Pfandflaschensystems gestartet. Genau solche Initiativen, sogenannte „grass-root initiatives“, sind in seinen Augen im politischen System von Michigan verloren gegangen. „The process was hijacked by money!“ - Direkte Demokratie wurde vom Geld in Geiselhaft genommen, ist sein nüchternes Fazit. Mit genügend Geld könne man hier jede Initiative auf den Wahlzettel bekommen. So habe der Besitzer der Ambassador-Brücke, die Michigan und Kanada verbinde, mit einer Initiative versucht, den Bau weiterer Brücken zu verhindern. Für die Kampagne habe er 35 Millionen Dollar ausgegeben. Zwar sei die Initiative in einer Volksabstimmung durchgefallen, die Gegenkampagne sei aber aufwändig und teuer gewesen.

Ins selbe Horn bläst John Truscott, Chef einer etablierten PR-Agentur, den wir am Nachmittag treffen. Ihm ist vor allen Dingen die bezahlte Unterschriftensammlung ein Dorn im Auge. „Was uns besonders schockiert: Kampagnen, die nicht nur die Unterschriftensammler, sondern auch die Unterzeichner bezahlen müssen.“ Das sei moralisch zweifelhaft, aber gesetzlich natürlich nicht verboten. Auch sei es ein Problem, dass Initiativen zur Änderung der Verfassung zu geringe Hürden hätten. „So werden Inhalte in diese geschrieben, die dort einfach nicht hinein gehörten und auch nur schwer wieder zu ändern sind“, resümiert Truscott.

Auf der Fahrt zurück ins Hotel lasse ich mir die Gespräche des Tages noch einmal durch den Kopf gehen. Braucht Michigans direkte Demokratie höhere Hürden? Oder ist dieser Teil der Politik nur ein Symptom für die großen Probleme, die der einstige Motor der US-amerikanischen Industrie hat? Ich beschließe, unseren Besuch in Detroit abzuwarten, der morgen auf dem Programm steht.

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Donnerstag, 8. November

Von Detroit habe ich schon einiges gehört – die dortige Realität ist aber weitaus schockierender. Das ehemalige Industriezentrum ist in den vergangenen Jahren von zwei Millionen auf 700.000 Einwohner geschrumpft. Auf dem Weg in die Stadt sehen wir überall leere Fenster, halb verfallene Fabrikgebäude und Obdachlose, die an den Straßenecken betteln. Wir fahren zur „Central Station“, wo wir den Fox 2 - Reporter Charlie Leduff treffen. Der 1988 geschlossene Bahnhof, der von weiteren leerstehenden Häusern umgeben auf einer Industriebrache steht, ist in seinen Augen Sinnbild für die Probleme von Detroit. Charlie erzählt uns gestenreich vom Besitzer der Brücke, mit dem er kurz zuvor ein Interview führte. Maroum ist Großspender der Initiative gegen eine neue Brücke und Besitzer der verfallenen „Central Station“ sowie der umliegenden Gebäude. Was tun in einer Stadt, die so viele Einwohner verloren hat, völlig überschuldet ist und deren Auto-Industrie sich in einer tiefen Krise befindet?

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Freitag, 9. November & Samstag, 10. November

Wir fliegen nach Florida. Am Freitagabend treffen wir einen der Menschen, der sein Leben mit dem Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren bestreitet. Mir sind in meiner Zeit bei Mehr Demokratie schon viele Leute begegnet, die sich aus tiefer Überzeugung für mehr direkte Demokratie einsetzen. Und wider meiner Erwartung gehört auch dieser junge Mann dazu. In seinen Augen ist jedes Volksbegehren ein Papier gewordener Protest. Dagegen, dass über eine Sache abgestimmt wird, sei nun mal nichts zu sagen. Er helfe eben dabei, dass dies möglich werde. Unterzeichner zu bezahlen hätte er nicht nötig, denn „I am a machine! I never fail!“ Zumindest das glaube ich ihm aufs Wort. Der Mann ist ein Verkaufstalent und würde wohl auch im Vertrieb oder im Direktmarketing seinen Weg machen. Zum Abschluss der Tour treffen wir auf Sheena und ihre Kollegen von „Organize now!“, einer Graswurzel-Initiative aus Orlando. Ihr Ziel: Eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchzusetzen. Die Unterschriftensammlung haben sie bereits erfolgreich absolviert; jetzt liegt es am Supreme Court, ob es auch zu einer Abstimmung kommen wird. Bei Chips und Cola tauschen wir uns über die Organisation von Kampagnen aus. Und ich bekomme das Gefühl, dass es in diesem spartanisch eingerichteten Büro sicherlich nicht um Geld, sondern vor allem um die Überzeugung geht, das Richtige zu fordern.

Damit endet unsere Reise. Gelernt habe ich in dieser Woche eine Menge. Die US-Politik ist weit mehr von Spenden bestimmt als in Deutschland. Kein Wunder, bekommen die Parteien doch keinerlei staatliche Zuwendung; und auch Initiativen müssen sich vollständig selbständig finanzieren. Echte Graswurzel-Bewegungen sind in den vergangenen Jahren seltener geworden. In Zeiten einer andauernden Wirtschaftskrise bleibt vielen kaum Zeit, sich politisch zu engagieren. Trotzdem ist die direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten weit stärker als hierzulande ausgebaut und kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Wahlen und Abstimmungen sind ein selbstverständlicher Teil der Demokratie und niemand denkt ernsthaft über eine deutliche Einschränkung nach. Im Gegenteil: Wie unaufgeregt die Menschen selbst mit problematischen Abstimmungsinhalten umgehen, ohne direkt das große Ganze in Frage zu stellen - von diesem demokratischen Selbstvertrauen können wir in Deutschland viel lernen.

Zuletzt: Thanks to our organizers Bruno and Joe! You really finished the job!

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