Kommunale Demokratie in Ottersberg: Ein Interview mit dem Bürgermeister Tim Weber

Dieter Halbach: Du warst 28 Jahre lang bei Mehr Demokratie. Was hast du mitgenommen in deinen Job als Bürgermeister?

Tim Weber: Mehr Demokratie bietet ein sehr liberales und ein sehr entwicklungsfreundliches Umfeld und das hilft schon. Bei der Arbeit eignest du dir eine Menge soziale Kompetenzen an. Dazu gehört auch Konfliktmanagement und Konfliktfähigkeit.

Die Rolle des Bürgermeisters finde ich sehr interessant. Das sind ja sehr verschiedene Fähigkeiten, die es da braucht ...

Weber: Oft denkt man ja, das was man kann, braucht man. [lacht] Ein Kollege von mir ist zum Beispiel ein echter Ver-waltungsfachmann. Wenn ich eine Verwaltungsfrage habe, rufe ich den auch mal an, weil er eine Genauigkeit hat, die ich auf dem Gebiet nie entwickeln werde. Genauigkeit hilft. Es ist hilf-reich, ein Gespür dafür zu entwickeln, im richtigen Moment nachzufragen, denn auch Verwaltungen machen Feh-ler. Kommunikationsfähigkeit ist si-cherlich hilfreich. Und Stressfähigkeit, Belastbarkeit, das sind alles nützliche Dinge, weil es ein 60–70 Stunden Job ist. Er ist sehr abwechslungsreich, aber das macht es natürlich auch anstren-gend. Du musst in der Lage sein, dich schnell einzufinden, einzudenken.

Du hast mal gesagt: „Die Kommune ist der Ort der Selbstwirksamkeit.“ Da ist einerseits dieser Nahbereich, aber viele große Themen werden ja auch woanders entschieden. Gibt es auch Themen, wo du an Grenzen stößt?

Weber: Die Lösung wäre relativ einfach: den Kommunen mehr Geld geben und mehr Entscheidungskompetenzen. Bei uns ist zum Beispiel die Klimawende nicht so ein Problem. Wir haben ein eigenes E-Werk. Es hat heftige Krisen hinter sich. Aber es wurde nicht verkauft. Wir haben eine eigene Telefongesellschaft. Du kannst eine ganze Menge machen als Kommune. Das Problem sind eher die Regelungen und auch die Menge gesetzlicher Vorgaben, die nicht umgesetzt werden können. Das ist ein Grund, warum ich gegen gesetzliche Regelungen auf Landesebene bin, die den Kommunen Bürgerräte vorschreiben. Das ist so ein zentralistisches Denken, und eine NGO neigt vielleicht notwendigerweise dazu. „Wir haben erkannt Bürgerräte sind echt cool. Komm wir schreiben vor, dass das jetzt alle machen müssen.“ Oder: „Macht mal ein Transparenzgesetz!“ Und ich kann sagen, was passieren wird, wenn das in Niedersachsen kommt. Wir werden es nicht umsetzen, weil wir es schlichtweg nicht schaffen.

Würdest du sagen, man sollte auf Entscheidungsebenen verzichten? Also so eine Art Glokalisierung anstreben mit souveränen, weltweit vernetzten Kommunen?

Weber: Das wäre eine Vision. Aber die Realität ist: Die EU-Ebene hat sich im-mer mehr Befugnisse angeeignet und damit die Bundesebene etwas entmachtet. Die Bundesebene hat sehr viel zentralisiert, indem sie Zustimmungsrechte auf den Bundesrat überlagert hat. Damit haben die Regierungen Einfluss, aber nicht mehr die Landesparlamente. Und die Landesebene tobt sich jetzt auf der kommunalen Ebene aus.
Habt ihr da einen Konflikt?

Habt ihr da einen Konflikt?

Weber: Ständig. Der Niedersächsische Städte und Gemeindebund ist da ständig in Auseinandersetzung mit der Landesebene. Das gilt von oben nach unten und von unten nach oben. Wir haben z. B. gerade die Kita-Gebühren erhöht und wurden dafür richtig doll geprügelt. Daraufhin haben einige unserer Ratsmitglieder gesagt, dass das auf Landesebene bezahlt werden sollte. Sobald es auf der kommunalen Ebene schwierig wird, gibt es auch Leute, die nach der höheren Ebene rufen. Und das geht natürlich nicht.

Du sagst: „Die Kunst der Beteiligung wäre herauszufinden, wann sie sinnvoll ist und wann nicht.“ Hast du Beispiele für zu viel Beteiligung oder Beteiligung an den falschen Stellen?

Weber: Ja, klar, wenn die Ergebnisoffenheit gar nicht da ist, weil es gesetzliche Vorgaben gibt oder schon zu viele Vorgespräche geführt worden sind. Dann kann ich mit so einem Beteiligungsprozess eine Erwartungshaltung wecken, die ich nie wieder einfange.

Ein großes Thema ist jetzt, dass Beschleunigung vor Beteiligung gehen soll, vor allem im Bereich Energiewende ...

Weber: Also wo wir es grade merken, ist bei den Solaranlagen. Bei Autobahn und Schienen in einer Entfernung von 200 Meter werden die Anlagen privilegiert und das heißt letztendlich: Die kommunale Ebene wird ausgeschaltet. Es gibt Gemeinden, die wollen dort Gewerbegebiete entwickeln und das geht dann teilweise gar nicht mehr. Das ist natürlich eine Methode, um die kommunale Ebene auszuhebeln.
Immer dann, wenn du eine Frage zur Gewissensfrage erhebst, ist der demokratische Diskurs schwer behindert, wenn nicht ausgeschaltet. Die Bedingungen auf dieser Erde werden sich verschlechtern, zumindest sieht es derzeit danach aus. Aber ich finde es schwierig, wenn gar nicht kritisch hinterfragt werden kann: Brauchen wir wirklich so viel Windräder? Die Vorteile von Demokratie, dass du eben auch was anzweifeln und hinterfragen kannst, das wird gerade eingedämmt. Also ja zu regenerativen Energien, aber die Entscheidung bitte vor Ort.

Letztendlich geht es natürlich auch um eine  Kulturfrage, also wie geht man miteinander um? Wie entsteht ein Gemeinschaftsgefühl  in der Gemeinde?


Im besten Falle geht Beschleunigung sogar mit mehr Beteiligung zusammen.

Weber: Wenn ich über Beteiligung Menschen und ihre Interessen integriere, ist die Wahrscheinlichkeit von Widerspruch höher. Das heißt, für mich ist es wahrscheinlicher, dass Beteiligung die Prozesse verlängert. Ich selbst habe das hier schon offensichtlich falsch gemacht. Zum Beispiel ein Thema war der Ruheforst. Eine große Mehrheit war dafür, es stand in der Zeitung, aber die Anwohner haben die Zeitung halt nicht gelesen. Und als es dann soweit war, kam natürlich der Vorwurf: „Ihr habt uns nicht informiert. So ein Ruheforst in unserer Nähe, das finden wir gar nicht gut!“ Dann sagt man sich im Nachhinein: „Hätte man besser machen können!“ Beteiligung muss frühzeitig und kreativ sein. Aber das in dem Moment zu erkennen, ist ja die Kunst. Auf der Kommunalebene sind viele Entscheidungen zu treffen. Für jede Entscheidung ein Beteiligungsverfahren anzu-setzen, ist nicht möglich.
Wenn Du mal auf Aufwand, Ergebnis, Nebenwirkungen des LOSLAND-Projekts schaust. Bist du da überzeugt oder hast du Verbesserungsvorschläge?

Wenn Du mal auf Aufwand, Ergebnis, Nebenwirkungen des LOSLAND-Projekts schaust. Bist du da über-zeugt oder hast du Verbesserungs-vorschläge?

Weber: Vom Bürgerrat als guter Methode bin ich überzeugt. Jetzt bei dem konkreten Verfahren finde ich schon: Der Aufwand ist zu groß. Also ich bin eher ein Freund von Micro-Bürgergutachten (siehe Hinweise), denn das ist eine Möglichkeit, die die Kommune auch selber machen kann. Positiv war, dass unser Bürgerrat heterogener war als das Parlament oder als es sonst bei Beteiligung üblich ist. Hälfte Frauen, Hälfte Männer. Allerdings. Wenige Menschen mit Migrationshintergrund, wenige junge Leute. 

Also ihr habt den Bürgerrat nicht mit dem Anspruch gemacht, einen Querschnitt eurer Gemeinde abzubilden?

Weber: Da haben wir eine ganz massive Diskussion geführt und es gab welche, die wollten das nicht gewichten, die wollten nur losen. Die Entscheidung war dann: Wir müssen zumindest nach Alter und Geschlecht gewichten, damit das besser vertreten ist. Im Übrigen erfüllen Bürgerräte m. E. nicht den Anspruch der Repräsentativität, son-dern eher der Heterogenität.

Es war ja auch ein relativ weit gefasstes Thema …

Weber: Das Thema sollte eigentlich demographischer Wandel sein und das wurde dann sehr allgemein umgedeutet. Aber du hast mich noch nach der Gesamtbewertung gefragt. Es sind nicht so viele neue Ergebnisse heraus-gekommen. Aber sie haben zu einer Fokussierung geführt. Wir führen jetzt zum Beispiel die Dorf App ein, um die Kommunikation im Ort zu verbessern.

Und ihr habt auch eine eigene Kinder-Beteiligung gemacht. War das bereichernd für den Gesamtprozess?

Weber: Die Kinder haben mich auf ein, zwei neue Ideen gebracht. Das war vor allem die Idee, dass man Plätze so ge-staltet, dass sie für Alt und Jung zugänglich sind. Und dass man Aktionen wie Kochen organisiert, wo Alt und Jung zusammenkommen. Zu dem ge-samten Prozess gehörte auch ein Forum, wo die Öffentlichkeit noch mal hingehen konnte. Da waren bei uns über 100 Menschen da. Und dann gab es abschließend einen Workshop mit den Ratsmitgliedern, der Verwaltung und zwei Leuten vom Bürgerrat.

Hast du weitere Themen, die du gerne mit Bürgerbeteiligung angehen würdest?

Weber: Ich glaube, Bürgerbeteiligung gelingt dann, wenn man wirklich ehrlich eine Frage hat. Und zwar auch seitens der Verwaltung und seitens der Politik. Ein Thema könnte Wohnungspolitik sein.

Hast du denn etwas, was du in den verbleibenden Jahren unbedingt erleben oder verwirklichen möchtest?

Weber: Letztendlich geht es natürlich auch um eine Kulturfrage, also wie geht man miteinander um? Wie entsteht ein Gemeinschaftsgefühl in der Gemeinde? Das ist so eine Frage, an der ich arbeite. Ich habe gerade ein schönes Seminar bei unserer Kunst- Hochschule in Ottersberg (HKS) gemacht: Künstlerische Intervention in Politik und Verwaltung. Kunst hat unter anderem die Aufgabe, Unsichtbares sichtbar zu machen. Wie schaffe ich es eigentlich, die Stimmen, die nicht gehört werden, hörbar zu machen? Mir scheint, dass aus dem Theaterbereich viele Instrumente helfen können, was Einfühlung angeht, was Sichtbarmachung angeht.
Wir haben uns in diesem Workshop über das Thema Überforderung angenähert. Es wurde eine Szene vorge-spielt und dann war die Frage: „Was hat euch gut gefallen, was wünscht ihr euch anders?“ Und dann wurde das anders gespielt. Im Nachhinein dachte ich. „Das war wirklich stark.“ Ich hatte die Überforderung nicht mal wahrge-nommen. Ich hatte aber eine – und die konnte ich dann sozusagen erleben, ich durfte sie teilen. Das macht Spaß und erhöht die Resilienz.

Neues entsteht da, wo es auch um neue Methoden geht. Wo Menschen sich nicht nur durch Worte äußern können …  Ich bin gespannt, ob Du in dem Bereich neue Wege gehst.           
                         
Weber: Wir haben auch innerhalb des Rates mit Beteiligungsverfahren gear-beitet und das hat gut funktioniert. Auf einmal hat man festgestellt „Wo sind eigentlich die Unterschiede. Wenn ein Bürgermeister zu einer Einwohnerver-sammlung einlädt, dann kommen die Menschen. Und so kann ich auch zu anderen Formaten einladen. Die Frage ist: Wieviel Zeit nehme ich mir dafür und wie mutig bin ich, sind wir, neue Wege zu gehen? Und habe ich auch Mitmacher? Wenn du nur die hast, die am Himmel fliegen, die werden die Bürger nicht abholen. Die, die auf dem Boden stehen, sind ebenso wichtig.  Aus mei-ner Sicht können Methoden hilfreich sein, entscheidend ist aber Begegnung, Kreativität, Lachen, Begeisterung. Faszination ist die neue Methode.

Wenn Du soweit bist, dann schließen wir uns nochmal zusammen. Das ist ja die Richtung, in der wir gerade auch bei Mehr Demokratie die demokratische Kultur entwickeln wollen.

Weber: Das hört sich gut an. Es ist ja auch immer die Frage, wo du hin willst. In den Medien wird ja immer der Streit in der Politik transportiert. Aber in den meisten Fällen haben wir hier vor Ort eben nicht gestritten, sondern zusammen entschieden. Die Zusammenarbeit mit der hauptamtlichen Verwal-tung und auch mit dem Rat ist sehr gut und mit den Bürgerinnen und Bürgern klappt die Kommunikation größtenteils auch. In dieser ganzen Beteiligungsfra-ge gibt es nicht DIE eine Lösung. Es ist interessanter, die Vielfalt der Beteili-gungsverfahren zuzulassen. Damit dann Bürgerbeteiligung freiwillig funktionieren kann. Es wäre schön, wenn wir den Gemeinden Spielräume lassen, wie viel direkte Demokratie sie für ihre Arbeit vor Ort haben wollen. Das hat dann Hand und Fuß.

  • Kommunale Demokratie in Ottersberg - Ein Interview mit Tim Weber

    27. Februar 2023

Seite teilen:
Zum Anfang