Demokratieforschungs-Projekt:
Polarisierung in Krisen überwinden

Vom 28.4 bis 1.5. 2022 organisiert Mehr Demokratie zusammen mit dem internationalen Pocket Project und weiteren wissenschaftlichen Partnern (siehe unten) einen dreitägigen Online-Prozess zur Traumaintegration und Demokratieforschung. Die durch Corona ausgelöste und nun mehr als zwei Jahren andauernden globale Gesundheitskrise ist auch zu einer sozialen Krise geworden: Der Riss geht oft mitten durch Familien und Freundschaften und auch durch politische Netzwerke. Die für eine Demokratie notwendige Verständigung zwischen verschiedenen Positionen ist oft nicht mehr möglich – und auch die Demokratie selbst wird immer mehr in Frage gestellt.

Jetzt kommt noch die Belastung durch den Krieg gegen die Ukraine hinzu. Wir stellen uns die Frage:  Wie können wir in Anbetracht der aktuellen Situation in gutem Kontakt zu uns selbst und zu anderen bleiben und Orientierung finden?

 

Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie, Claudine Nierth: Jeder von uns reagiert anders in Krisen, je nachdem welche Erfahrungen wir in der Vergangenheit gemacht haben, was unsere Vorfahren erlebten oder welche Geschichte auf unserem Land liegt. Wir reagieren abhängig davon, wie sehr uns diese Erfahrungen überfordert oder gar überwältigt haben. Niemand ist frei von solchen Erlebnissen und sie beeinflussen letztlich auch unser politisches Denken und Handeln. Vermutlich spielen Traumata in der Politik eine größere Rolle als uns bewusst ist.

 


Was haben wir vor?

 

Wir möchten in den drei Tagen einen Raum der Verständigung und Wiederherstellung gegenseitiger Wahrnehmung anbieten. Es geht dabei nicht um eine der üblichen Diskussionen, sondern um eine Selbsterforschung in der Gruppe. Es können bis zu 500 interessierte Menschen teilnehmen. Menschen aus der ganzen Gesellschaft und aus einem breiten Meinungsspektrum werden hierfür angesprochen. Gleichzeitig möchten wir mit unseren wissenschaftlichen Partnern erforschen, ob und wie dieser Prozess ein Beitrag zur Vertiefung der Demokratie bieten kann.


Worum geht es?

 

Die Konfrontation mit immer neuen Krisen stellt unsere Demokratie vor eine große Herausforderung: Ob Corona, die Klimakrise oder aktuell der Krieg in der Ukraine – die Ansichten dazu gehen weit auseinander. Menschen erleben in ihrem Umfeld Spannungen und Spaltungen und stellen teilweise sogar die Demokratie selbst in Frage. Sogar die Politik reagiert oft hilflos, wenn es um scheinbar irrationales Verhalten geht.

Das Kernanliegen von Mehr Demokratie ist die ständige Weiterentwicklung der Demokratie, um mit den aktuellen Herausforderungen umgehen zu können. Neben unserer Kampagnen-, Beratungs- und Dokumentations-Arbeit experimentieren wir mit neuen Formaten und Werkzeugen, um die Demokratie zu vertiefen und weiterzuentwickeln. In ihrem Artikel „Demokratie vollständiger denken“ für das MD Magazin schreibt die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, Anne Dänner: „ Die Frage „Wie kann Austausch und Kommunikation gelingen?“ steht für einen Verein wie Mehr Demokratie zwangsläufig im Zentrum der Arbeit. Demokratie ist ein niemals endendes Gespräch. Nun könnte man es dabei bewenden lassen, Fakten mitzuteilen und zu analysieren und auf rein rationale Botschaften zu setzen – auch das wäre ja ein Gespräch. Eine Erfahrung ist allerdings, dass wir dabei an unsere Grenzen stoßen“

Um der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken ist also die gegenseitige Wahrnehmung und Verständigung grundlegend. Oft spielen dabei neben dem aktuellen Ereignis auch ungesehene Wunden der Vergangenheit eine Rolle. Negativ-Erfahrungen („Traumata“), wie sie etwa die Weltkriege, Flucht und Vertreibung oder Unterdrückung im eigenen Land hinterlassen haben, beeinflussen uns als Menschen teilweise über Generationen hinweg. Es entstehen dabei auch Verbindungen zu individuellen Traumata durch zumeist frühkindliche Verletzungen. Durch den von Thomas Hübl entwickelten und vom Pocket Project angewandten Trauma-Integrationsprozess werden unbewusste kollektive Dynamiken sichtbar und kommunizierbar gemacht.

Was passiert beim Trauma-Integrations-Prozess?

 

Wie erkennen wir Trauma und wie können wir mit Trauma umgehen? Neben einer inhaltlichen Einführung in das Thema von Trauma und dem Bezug zur Demokratie wird u.a. immer wieder ein Austausch in kleinen Gruppen stattfinden. In der Regel werden die Teilnehmenden zufällig in Dreiergruppen („Triaden“) eingeteilt, um sich über ihre persönlichen Erfahrungen auszutauschen. Hierbei wird das empathische Zuhören und differenzierte Wahrnehmen geübt. Bei Bedarf gibt es auch größere Gruppen mit bis zu 10 Personen für einen thematischen Austausch. Im Anschluss kehren alle Teilnehmenden wieder in den großen Raum zurück. Im direkten Austausch einzelner mit dem Leiter des Prozesses, Thomas Hübl, besteht die Möglichkeit in konkrete Erlebnisse und Erfahrungen so einzutauchen, dass für alle Teilnehmenden im Raum der Prozess fruchtbar wird und die Integration von Traumata ermöglicht. Es geht darum, das individuelle Erleben so herauszuarbeiten und in das Bewusstsein zu heben, dass es sich erhellend und im besten Falle heilend auf einen selbst und die anderen Teilnehmenden auswirken kann. Für den Fall, dass individuelle Betreuung und Gespräche notwendig werden, steht ein erfahrenes Team von professionellen Beraterinnen und Beratern in geschützten Räumen zur Verfügung.
 

Was soll erforscht werden?

 

Da unbewusste Erfahrungen und Emotionen unser tägliches Handeln beeinflussen, gehen wir der  Hypothese nach, dass das bewusste Erkennen und Einbeziehen von Traumata nicht nur für die einzelnen Menschen, sondern gerade für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie als Ganzes hilfreich und unterstützend ist.

Um das zu überprüfen, wird der Prozess wissenschaftlich vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS)  und dem Institut für integrale Studien (IFIS) begleitet. Mit dem innovativen Werkzeug der Sensemaker-Software kann erforscht und abgebildet werden, wie sich die Positionen der Teilnehmenden im Gruppenprozess verändern. Die Forschung soll dazu dienen, einen möglichen  Zusammenhang zwischen Trauma und gesellschaftlicher Polarisierung besser zu verstehen und Ansatzpunkte für ihre Überwindung zu finden. Wir wollen damit einen Beitrag zur Vertiefung und Handlungsfähigkeit der Demokratie leisten. Wie erkennen wir, ob Traumata in uns wirken? Und gibt es gar so etwas wie kollektive traumatischen Strukturen? Wenn ja, wie können wir mit ihnen umgehen? Wie sehr beeinflussen sie uns selbst und insgesamt das politische Handeln? Diese Forschungsfragen verfolgen wir bei Mehr Demokratie. Damit wollen wir herausfinden, welche Faktoren die Demokratie stabilisieren und wie wir die ganze Vielfalt der Gesellschaft konstruktiv integrieren können.

Institute: www.iass-potsdam.de, www.ifis-freiburg.de

sensemaker: www.thecynefin.co/about-sensemaker, deutsch: www.ezc.partners/2020/07/25/6670


Wer steht dahinter?

 

Für das aktuelle Projekt kooperieren wir mit dem Pocket Project. Das ist ein gemeinnütziger Verein, der sowohl Fachleute als auch Bürgerinnen und Bürger weltweit zu den Auswirkungen und Prozessen der Integration kollektiver Traumata schult. Er entwickelt soziale Projekte, die traumainformierte Hilfe und Aktionen in Krisengebieten auf der ganzen Welt unterstützen. Das Projekt stellt in einer zunehmend fragmentierten Welt Beziehungsfähigkeit wieder her, indem individuelle, vererbte und kollektive Traumata angesprochen und integriert werden. Damit können die Wunden der Vergangenheit geheilt und einen Weg der Zusammenarbeit, Innovation und des globalen Wandels unterstützt werden. Der Initiator des Pocket Project Thomas Hübl ist zum Thema Integration von Traumata weltweit engagiert und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Austausch. Die politische Dimension von Trauma war für ihn auch ein Motiv, das internationale Pocket Project zu gründen und in mehr als 30 Ländern Forschungslabore durchzuführen, die sich mit Themen wie Rassismus und Diktatur befassen. In Deutschland und Österreich widmet sich Thomas Hübls Arbeit besonders den Traumata des Faschismus. Der Schwerpunkt seiner Arbeit hat sich in den letzten Jahren zunehmend der Bedeutung der inneren Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie zugewandt.

 

„Wir können eine große Meinungsverschiedenheit mit jemandem haben und trotzdem in Beziehung bleiben. Gegensätzliche Standpunkte bedeuten nicht, dass ich mich von den Erfahrungen des anderen abkoppeln muss… Nicht was wir besprechen, ist schmerzhaft, sondern wie wir miteinander sprechen … Wenn ich mit jemandem von einem distanzierten Standpunkt aus spreche, wie kann ich dann erwarten, dass derjenige mir zuhört, wenn ich sie oder ihn nicht einmal spüre?“ (Thomas Hübl)

 


Wie kann man teilnehmen?

 

So lange noch Plätze offen sind, können sich alle Interessierten hier anmelden und weitere Informationen über das Projekt erhalten:

https://pocketproject.org/collective-trauma-democracy/

Zur Einstimmung in die Thematik können Sie sich auf der Website auch für ein kostenloses Gespräch mit Claudine Nierth und dem Leiter des Workshops, Thomas Hübl, anmelden. Das Gespräch findet am 11.4.2022 von 20.00 bis 21.30 statt.

Wie kann man teilnehmen?

So lange noch Plätze offen sind, können sich alle Interessierten hier anmelden und weitere Informationen über das Projekt erhalten:

Mehr zum gesamten Projekt finden Sie im aktuellen demokratie magazin

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